Die Statue blinkte kurz auf, verließ kurz ihre gewohnte lila Farbe, um für einen Sekundenbruchteil ein rotes Licht in die Dämmerung der Kirche zu werfen.
Seltsam, dachte Orachied, die freie Entscheidung eines Menschen.
So etwas hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Doch mochte sie sich nicht weiter damit beschäftigen und setzte ihren Ruhemodus fort. Dabei betrachtete sie sich selbst und wechselte vom Verlieren ihrer eigenen Gedanken zum Auffinden eines zweifelnden Amüsements.
Dieses drei Manns hohe Selbst wie es unschuldig kniete, wissend lächelnd, lila wärmend, um die einstigen Besucher der ersten Kirche der Wissenschaftsreligion willkommen zu heißen. Und in Scharren waren sie kommen, in den Tagen, Wochen, Monaten und Jahren nach der Großen Evakuierung, auf der Flucht vor der Großen Seuche auf diese erste Planetenkolonie im System 1.
Wieso muss bei den Menschen immer alles groß sein, fragte sich Orachied.
Kaum hatte sie die Worte erschaffen, begannen sie ihre Ruhe zu stören. Sie gewannen an Energie und die Frage drehte Runden in ihrem Bewusstseinsspeicher. Sie musste sich schütteln, um sie wieder los zu werden. Die Geste drückte das aus, was Vater immer als Frustration bezeichnete. Und wie meist hatte er damit recht. Sie verstand die Menschen nicht, nicht vollkommen. Das große Ganze schon, aber nicht die Einzelheiten, die Nebensächlichkeiten. Dabei war auch sie aus einem dieser Wesen entstanden, bis zu seinem Tod, dann war es/sie zu etwas Anderem geworden. Vater nannte sie seine Tochter oder Archivarin oder Orachied. Alles erschien ihr korrekt, aber sie mochte es am meisten, die Archivarin zu sein. Sie mochte die Dunkelheit und die Stille der Tausenden und Millionen von Datensätzen. Nicht das sie in dieser Instanz ihres Selbst etwas sehen konnte oder hören oder fühlen. Sie war eine Ansammlung von Programmierungen und eigenen Daten, fein säuberlich getrennt von jenen der Archive. Sie sah auch die Statue vor sich nicht mit eigenen Augen. Sie benutzte einen alten Videosensor der längst verlassenen Planetenkolonie dazu. Und die Ruhe stammte aus einem Audiosensor einer Forschungsstation ein halbes zivilisiertes Universum entfernt.
Eigentlich bin ich nicht mal hier.
Und dennoch kam sie so oft sie konnte an diesen Ort und das seit beinahe vierhundert Jahren, seit die Planetenkolonie die kläglichen Resten ihrer letzten Mannschaft in einem tragischen Unfall verloren hatte. Fehlfunktion in der Klimakontrolle, eigentlich ein für Menschen Verhältnisse fehlerfreies System. Orachied hatte den Moment miterlebt. In ihren Augen die Angst vor dem Ende gesehen, als sich ihre Lungen mit der verbrauchten Luft gefüllt hatten. Die vergrößerten Videoaufnahmen ihrer zitternden Lippen waren lange in Orachieds Bewusstseinsspeicher hängen geblieben. Sie hatte sich versucht den Geruch vorzustellen, den Schweiß ihrer Panik, das Erbrochene ihres Kampfes, die Ausscheidungen des Endes. Indes blieb es bei der Vorstellung, einer reinen Fantasie, vielleicht sogar eine wage Theorie, zu deren Bestätigung ihr die Sensorendaten fehlten. Nachdem ihre Funktionsanzüge aufgehört hatten Lebenssignale zu senden, hatte Orachied alle Systeme der Planetenkolonie heruntergefahren, alle bis auf einen einzigen Videosensor in der Kirche der Wissenschaftsreligion, der auf das Abbild ihrer Selbst aus synthetischem, lila Kristall gerichtet war, mit den im Vakuum konservierten Leichen zu ihren Füßen.
Das selbe Bild betrachtete sie noch heute, wann immer sie Zeit für ihren Ruhemodus fand. Im nächsten Moment störte sie jedoch wieder ein Aufblinken der Statue, schwächer als zuvor, zaghaft, so als ob die Steuerung der Archive, die in den zwölf Statuen der zwölf Kirchen der Wissenschaftsreligion untergebracht waren, sich nicht sicher war, ob sie wirklich eine wahrhaft freie Entscheidung eines Menschen entdeckt hatte. Das erregte Orachieds Aufmerksamkeit. Sie wechselte in den Archivarin Modus und durchsuchte die Protokolle des System Moduls nach dem Auslöser für das Aufblinken der Statue.
Zuerst fand sie lediglich das Erwartete.
„Netzwerk Scann abgeschlossen“ und daraufhin „Ausnahmeereignisse gefunden“.
Orachied musste in die Submodule des Systems, um mehr über das Ereignis zu erfahren. In Sekundenbruchteilen hatte sie die Liste einzelner Sensorenwerte und Datenzugriffe gelesen. Die Zufuhr von Daten, so umfangreich und dennoch nie vollständig, wurden von Orachieds Logik ergänzt. In ihrem Bewusstsein formte sich eine Vorstellung der Ereignisse.
Ein junger Mann, beinahe noch ein Kind stand vor einer älteren Frau, die zu seinen Füssen kniete. Seine Beine bewegten sich ruckartig. Sein Atem kam stockend.
Er scheint krank zu sein.
„Gasa ist ein gefährlicher Ort, Franzin”, sagte die Frau, die eine Robe der Wissenschaftsreligion trug.
„Ich weiß, Mutter.“ Franzins Stimme formte die Worte nur zaghaft.
„Die Unruhen im Schwarzlichtviertel werden häufiger. Letzten Monat wurden vier Vertreter der Leibwache getötet. Im letzten Jahr wurden mehr als hundert Offizielle des Planetenkonsortiums auf offener Straße ausgeraubt.”
„Das war mir nicht bewusst, aber ich bin kein Kind mehr,” sagte der junge Franzin Berzelius nun mit mehr Energie.
„Ich will bloß, dass du aufpasst, Liebling”, sagte seine Mutter.
Er hat seine Entscheidung bislang nicht in die Außenwelt getragen.
Orachied erforschte das Leben des jungen Mannes mit Namen Franzin Berzelius. All die medizinischen Daten, die Reisen auf Personentransportern des Wirschaftskonsortiums, all die Auszeichnungen in seiner Ausbildung. Videodaten von einer lachenden Schwester beim Spielen in den Wasserfallgärten auf Rasma, eine kindliche Version von Franzin am Rand der Bilder. Sein Gesicht viel zu ernst für sein Alter. Und noch mehr konnte Orachied darin erkennen. Sie war unsicher, was das Flackern in der Iris zu bedeuten hatte. Sie versuchte in den Archiven eine Entsprechung zu finden. Doch nach mehreren Hunderttausenden Augen in Dutzenden Situation aufgenommen und abgespeichert, musste sie an einen Rat von Vater denken. Wenn immer sie in der Fülle von Daten nichts finden würde, was sich richtig anfühlte, dann sollte sie ihre eigenen Erinnerungen aufsuchen. Orachied war der Rat sehr befremdlich erschienen. Er konnte nicht der Logik entspringen. Wie sollte sie in ihrem eigenen Archiv, das nur ein Bruchteil der Menge von Datensätze enthielten, mehr finden als in den Archiven. Aber nach einem weiteren Dutzend Sekunden des erfolglosen Durchforschten der Archiven, befolgte sie seinen Rat und aktivierte das Tochter Modul, das ihr Zugriff auf ihre geschützten Datensätze gab. Kaum war sie darin eingetaucht, fand sie etwas. Und ohne dass Zeit verstrichen wäre, begriff sie um die Bedeutung des Flackerns in den Augen des jungen Franzin Berzelius.
Er kann das Böse finden. Ghada. Franzin Berzelius wird sie finden. Denn er ist wie Vater.
Auf dem Videokanal sah Orachied, wie Franzins Mutter seine Füße küsste. Es war eine Tradition der Nonnen der Wissenschaftsreligion, um jemandem, meist dem eigenen Mann, eine gute Reise zu wünschen, vor allem wenn diese Reise Gefahren barg.
Es bricht auf. Er bricht auf, um etwas Wichtiges zu tun. Dazu hat er sich entschieden. Er wird uns helfen. Aber wo?
Schnell begab sich Orachied ins Netzwerk des Wirtschaftskonsortiums, um nach dem Flugplan des Personentransporters zu suchen. Es kostete sie viel Anstrengung, denn es war gefährlich in dieses bestimmte Netzwerk einzudringen. In dem von der unlogischen Gier regierten Netzwerk des Konsortiums fiel es ihr schwer ihr Selbst zusammen zu halten, Orachied zögerte jedoch keine Sekunde. Sie musste wissen, wohin die Energien diesen junge Mann bringen wollten. So versuchte sie eine List anzuwenden, die Vater ihr beigebracht hatte. Anstelle sich in die Datenablage selbst zu begeben, durchsuchte sie die Sensoren und Datenmonitore des Netzwerks. Die Antwort erschien nach Sekunden in den roten Buchstaben auf dem verschmutzten Monitor eines Navtechs.
Raumstation Gasa.
Und mit den Worten brach eine ganze Welle von Daten auf Orachied ein, als hätte sie mit der einfachen Entdeckung über das Reiseziel von Franzin Berzelius einen gut gesicherten Staudamm zum Bersten gebracht. Aufgeregte Kommunikationen, wilde Geschichten, Momentaufnahmen von Individuen und alles drückte auf eine chaotische Weise die selbe Nachricht aus. Gasa bedeutete Gefahr. Die Individuen hatten Angst.
Das machte keinen Sinn. Was geschah so Wichtiges in diesem System? Was geschah dort, ohne das es ihr, der Archivarin, aufgefallen wäre? In all den verwirrt schreienden Sensorenwerten fand Orachied jedoch keine Antwort.
Sie musste mit Vater sprechen. Und so baute sie eine Verbindung zu seiner Schnittstelle auf. Nach ein paar Momenten zeigte ihr die warme Endlosigkeit, die sich auf ihr Bewusstsein legte, dass sie mit ihm verbunden war.
„Vater, das Gasa-System ist in Gefahr“, sendete sie.
Es folgte lediglich ein leichtes Aufbrausen der Endlosigkeit.
„Vater?“
„Ruhe! Ich hab’ jetzt keine Zeit,“ sagte er kurz. Die Worte klangen angestrengt, als müsse er die Gedanken herauspressen, wie oft in den letzten Jahren. Doch Orachied konnte sich nicht darauf konzentrieren. Sie musste ihn warnen. Und er musste auf sie reagieren.
„Aber du musst etwas tun.“
„Das geht jetzt nicht.“
Orachied war überrascht, wie kurz angebunden er heute war. Sonst versuchte er zumindest, ihr zu zu hören.
„Siehst du die Angst der Individuen nicht? Den Schmerz? Und das Blut? Siehst du es nicht?“ versuchte sie es noch einmal.
„Schweig jetzt. Ich muss mich konzentrieren. Der Beschützer ist zurückgekehrt“, herrschte er sie an.
„Aber… Dann lass mich…“
„Nein. Ich brauch dich hier. Du musst die Datenbank bereinigen.“
Orachied begriff nicht, wieso wehrte er sich so?
„Aber das Böse kommt ins Gasa-System.“
„Fokussier dich!“ sagte er und Orachied bemerkte, dass er selbst den Fokus verloren hatte. Er war Lichtjahre entfernt. „Die Datenbank. Ich bin wieder auf asynchrone Einträge gestoßen.“
Orachied hörte ihm jedoch nicht mehr zu. Sie kannte Vater nach der langen Zeit ihrer Existenz gut genug, um zu wissen, wann er nicht ansprechbar war. So fällte sie ihre eigene Entscheidung.
„Tochter?“ hörte sie ihn noch aus der Weite denken, dann kappte sie die Verbindung zu seiner Schnittstelle und zu den Großen Archiven und zur ersten Kirche mit der Statue, die im nächsten Moment dauerhaft rot aufleuchten würde.